Joachim Ringelnatz (eigentlich Hans Bötticher) 1883 – 1934
Joachim Ringelnatz kam am 7. August 1883 als Hans Bötticher in Wurzen zur Welt. Der Vater war Chefmusterzeichner in der Wurzener Tapetenfirma August Schütz. Vier Jahre später zog Familie Bötticher in die Messe- und Buchstadt Leipzig in die Straße „An der Alten Elster“. Für den kleinen Hans war der Fluss „Alte Elster“ ein beliebter Abenteuerspielplatz. Jahrzehnte später schrieb der Dichter Ringelnatz über seine Kindheitserinnerungen:
“Wenn die Pappeln an dem Uferhange
schrecklich sich im Sturme bogen,
hu, wie war mir kleinen Kinde bange!
Drohend gelb ist unten Fluss gezogen.“
Kindheit und Familie
Der stets zu Streichen aufgelegte Junge wuchs in einem toleranten Elternhaus auf. Der Vater, Georg Bötticher, verfasste humoristische Gedichte und Erzählungen auch in sächsischer Mundart, wie zum Beispiel den „Leutnant von Versewitz“. Auch als Herausgeber des damals beliebten Auerbachs Deutschen Kinderkalenders machte sich Bötticher einen Namen. Der Vater war stolz auf die dichterischen Fähigkeiten seines Sohnes. Der kleine Bötticher trug auf Familienfeiern originelle kleine Gedichte und Geschichten vor. 1905 schloss der Bötticher sein großes Atelier in der Fregestraße und arbeitete als freier Schriftsteller, veröffentlichte vorwiegend in Reclams Universalbibliothek. Eine Gedenktafel an der Rückseite des Alten Rathauses in Leipzig erinnert noch heute an sein Wirken als verdienstvoller Leipziger Bürger.
Die Schulzeit ist Ringelnatz stets in unangenehmer Erinnerung geblieben. Das aufmüpfige Kind litt unter den Strafen der Lehrer. Der Besuch des Königlich-Sächsischen Gymnasiums endete für Hans Bötticher vorzeitig: Den 14jährigen Gymnasiasten hatte eine so genannte Völkerschau im nahegelegenen Leipziger Zoo begeistert. Später erinnert er sich: „… Ich befand mich in den Pubertätsjahren und konnte mich an den bronzefarbenen, dunkelhaarigen Frauen nicht satt sehen. Da mein kleines Taschengeld für Geschenke nicht ausreichte, entwendete ich zu Hause nach und nach unseren gesamten Christbaumschmuck“. Die beschenkten Samoanerinnen dankten dem Halbwüchsigen mit einem „H“ auf dem Arm, das er sich während der Hofpause tätowieren ließ. Hans Bötticher wurde auf die Tollersche Erziehungsanstalt strafversetzt. Das dort abgelegte Reifezeugnis berechtigte ihn zum „Einjährig Freiwilligen Militärdienst“.
Traum von der Seefahrt
1901 ging der lang gehegte Traum von der Seefahrt in Erfüllung. Der Vater hatte ihm eine Lehrstelle auf dem Segelschiff „Elli“ verschafft. Als Schiffsjunge bereiste er Venedig, Konstantinopel, Liverpool, Rio de Janeiro und viele andere Orte. Doch das Abenteuerleben und die Freiheit des Matrosen wurden von den miserablen Arbeitsbedingungen auf See überschattet. Aufgrund seiner Sehschwäche wechselte der junge Bötticher 1903 in den einjährig-freiwilligen Militärdienst auf den Kreuzer „S.M.S. Nymphe“. Seine Erlebnisse zur See veröffentlichte er 1910/1911 im „Schiffsjungen-Tagebuch“.
Nach Entlassung als Bootsmaat begann er eine Kaufmannslehre in Hamburg. In dieser Zeit begann der Dichter zu schreiben und zu malen. Doch das Angestelltenleben wurde ihm zu langweilig; er kündigte und begab sich auf Reisen nach England. Der fahrende Musikant endete schließlich als Obdachloser im Gefängnis von Antwerpen.
Dichterkarriere in München
Nachdem sich Hans Bötticher mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten wie Schaufensterdekorateur, Buchhalter, Hausbibliothekar und Fremdenführer über Wasser hielt, kam er 1909 nach München. Dort entdeckte Ringelnatz das Künstlerlokal „Simpl“ (Simplicissimus), wo sich die Boheme der Zeit traf: Frank Wedekind, Klabund, Hermann Hesse, Erich Mühsam und andere. Hier begann seine literarische Karriere. Er stieg zum Hausdichter des „Simpl“ auf und trug allabendlich seine Verse vor. Zur gleichen Zeit eröffnete Ringelnatz in der Schellingstraße das „Tabackhaus: Zum Hausdichter“. Das Schaufenster des kleinen Ladens wurde mit einem menschlichen Gerippe dekoriert, welches „zwischen Zigarrenkisten und Zigarettenschachteln herumwühlte“. Das Reklameschild warb mit „Damen und Herren werden auf Wunsch gegen Bezahlung angedichtet … Es grüßt der Hausdichter!“. Die so verschreckten Kunden ließen den Laden bereits nach einem Jahr in Konkurs gehen. In verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte Hans Bötticher unter den Pseudonymen Pinko, Pinko Meyer und Fritz Dörry erste Gedichte und Novellen.
1910/1911 folgten verschiedene Reisen und private Weiterbildungen. Als Privatbibliothekar bei Heinrich Graf von York und bei Baron Börries von Münchhausen verdiente sich Hans Bötticher in den folgenden Jahren seinen Lebensunterhalt. Die 1913 erschienene Novellensammlung „Ein jeder lebts“ brachte erste schriftstellerische Anerkennung.
Kriegsmarine und Terrarium
Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges meldete sich der 31jährige Bötticher als Freiwilliger zur Kriegsmarine. Anfänglich erfüllt von der Verherrlichung der kaiserlichen Marine, erlebte er den schikanierenden Alltag auf einem Minensuchboot. Den Querulant Bötticher schob die Marine schließlich auf den Außenposten einer Luftabwehr-Maschinengewehrabteilung bei Cuxhaven ab. Sein dort angelegtes Terrarium voller Blindschleichen, Fröschen, Eidechsen und Ringelnattern festigte seinen Ruf als Sonderling. Während des Matrosenaufstandes 1918/1919 in Kiel soll er als einziger Offizier Zugang zum Arbeiter- und Soldatenrat gehabt haben.
Nach dem Krieg erlebte der 35jährige ein schweres Nachkriegsjahr mit Hunger und anderen Entbehrungen. Ende 1919 wurde aus Hans Bötticher schließlich Joachim Ringelnatz. Unter diesem Pseudonym veröffentlichte er künftig seine Werke als Dichter und Maler. Ob das Pseudonym „Ringelnatz“ nun an das Seepferdchen, seemännisch „Ringelnass“, erinnern sollte oder als poetisches Gedenken an seinen „Schlangenzoo“ gedacht war, ließ der Dichter im Unklaren. Es sei ihm „so eingefallen“. In der Nachkriegszeit entstehen die „Turngedichte“ und die „Kuttel Daddeldu“-Poeme“.
An seinem 37. Geburtstag 1920 heiratet er mittellos seine 15 Jahre jüngere Frau Leonharda Pieper, von ihm liebevoll Muschelkalk genannt, in München. Ringelnatz‘ Karriere als Vortragskünstler begann in der Berliner Kleinkunstbühne „Schall und Rauch“. Mit dem Vortragen seiner Gedichte verdiente der Autor als „reisender Artist“ in den 20er Jahren seinen Lebensunterhalt. Er trat in allen großen Städten Deutschlands, in Prag, in Zürich und Wien als Kabarettist auf. Mit dem Seemann „Kuttel Daddeldu“ schuf Ringelnatz eine neue Kunstfigur des literarischen Kabaretts. Seine abwechslungsreichen Programme begeisterten das Publikum.
Joachim Ringelnatz schrieb zwischen 1910 und 1934 fast 20 Bücher: Gedichtbände, zwei Autobiografien, Romane, Bühnenstücke und nicht zu vergessen seine Kinderbücher.
Ringelnatz als Maler
In den 20er Jahren schuf der Künstler Ringelnatz neben seinem literarischen Werk auch eine größere Anzahl von Bildern. 1923 fand eine erste Ringelnatz-Ausstellung in der Galerie Flechtheim in Berlin statt. Viele seiner Bilder spiegeln die Schwere seiner Gedanken wider. Joachim Ringelnatz wurde oft verkannt als komischer Kauz und Dichter heiter skurriler Verse. Hinter dem markanten Gesicht, das „zur Karikatur reizte“, stand ein ernsthafter Künstler mit einer Doppelbegabung.
Anfang 1930 flüchtete Ringelnatz aus München, „der Hauptstadt der braunen Bewegung“, nach Berlin. In der Hauptstadt fand er die Anerkennung von vielen Malern und Schauspielkollegen, die sein Talent erkannten und förderten. In Berlin führte er ein arbeitsintensives Leben als Schriftsteller, Maler und Vortragskünstler. Sein Seemannstück „Die Flasche“ wurde 1932 in Leipzig uraufgeführt; anschließend tingelte Ringelnatz zusammen mit jungen Schauspielern auf Tournee quer durch Deutschland und die Schweiz.
Von den Nazis verfolgt
Mit Machtantritt der Nationalsozialisten wurden seine Bücher auf den Index gesetzt; Ringelnatz erhielt Bühnenverbot. Sein letzter öffentlicher Auftritt war anlässlich seines 50. Geburtstages bei der Feier im Hotel Kaiserhof. Da war er schon an einer lang verschleppten Tuberkulose erkrankt. 1934 wenden sich seine Freunde (Asta Nielsen, Paul Wegener, Ernst Rowohlt, Renee Sintensis u.a.) mit einem Spendenaufruf an die Öffentlichkeit, um ihm einen Krankenhausaufenthalt zu ermöglichen. Im Oktober 1934, unheilbar krank aus der Lungenheilstätte entlassen, stirbt Joachim Ringelnatz am 17. November in seiner Berliner Wohnung. Die Grabplatte aus Muschelkalk auf dem Waldfriedhof an der Heerstraße trägt die von Renée Sintenis gezeichneten Worte:“ Joachim Ringelnatz“.
2000/2001 würdigte eine einmalige Ausstellung den Maler Ringelnatz. Im Rahmen eines Expo- Projektes wurden von der Universität Göttingen Exponate aus privaten Sammlungen, Museen und dem Ringelnatz-Nachlass zusammengetragen. Im Dezember 2004 erzielte sein lange als verschollen geltendes Gemälde „Hafenkneipe“ auf einer Kunstauktion in München den Rekordpreis von 43.300 Euro.
In seiner Geburtsstadt Wurzen erinnert die Ringelnatz- Gedenkausstellung im Kulturgeschichtlichen Museum an den Künstler. Auch in Cuxhaven kann man durch ein kleines Ringelnatzmuseum bummeln. In der Stadt an der Nordsee wird Lyrikern der Ringelnatzpreis und der Ringelnatz- Nachwuchspreis verliehen. 2004 erhielten Robert Gernhardt und Thomas Gsella den Dichterpreis.
Claudia Hilgers, Joachim-Ringelnatz-Verein Wurzen
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